Die Polyvagal-Theorie und Trauma: Wie unser Nervensystem auf Sicherheit und Gefahr reagiert
Warum fühlen sich manche Menschen nach belastenden Erfahrungen so, als könnten sie nie wieder richtig entspannen? Warum sind manche von uns ständig in Alarmbereitschaft, während andere sich zurückziehen, als wären sie innerlich erstarrt?
Diese Fragen haben Wissenschaftler lange beschäftigt – bis Dr. Stephen Porges, ein Neurowissenschaftler und Psychologe, mit seiner bahnbrechenden Polyvagal-Theorie eine neue Sicht auf unser Nervensystem brachte.
Seit ihrer Veröffentlichung in den 1990er Jahren hat die Polyvagal-Theorie unser Verständnis von Stress, Trauma und sozialer Verbindung revolutioniert. Sie zeigt uns, dass unser autonomes Nervensystem nicht nur zwei Zustände hat (Entspannung vs. Stress), sondern ein komplexes System ist, das unser Verhalten in jeder Sekunde unseres Lebens beeinflusst.
Stephen Porges und die Entdeckung des Vagusnervs als soziales Steuerzentrum
Dr. Stephen Porges (geb. 1945) ist ein amerikanischer Neurowissenschaftler, der an Universitäten wie der University of Illinois, der University of Maryland und der Indiana University geforscht hat. Seine Arbeit konzentrierte sich auf die Wechselwirkungen zwischen dem Nervensystem, Emotionen und sozialen Bindungen.
Die zentrale Erkenntnis seiner Forschung war:
Unser Vagusnerv (der längste Hirnnerv, der das Herz, die Lunge und den Verdauungstrakt steuert) ist nicht nur für Entspannung zuständig – er spielt eine entscheidende Rolle dabei, wie wir mit der Welt interagieren.
Bis dahin ging die Medizin davon aus, dass unser autonomes Nervensystem in zwei Modi arbeitet:
Der Sympathikus: Er ist unser „Gaspedal“, das uns in Alarmbereitschaft versetzt (Kampf- oder Fluchtreaktion).
Der Parasympathikus: Er galt als „Bremse“, die für Entspannung und Erholung sorgt.
Porges entdeckte jedoch, dass es nicht so einfach ist. Unser Parasympathikus hat zwei völlig unterschiedliche Äste – und das erklärt, warum Trauma so tief in unserem Körper verankert sein kann.
Die drei autonomen Zustände des Nervensystems
Die Polyvagal-Theorie unterscheidet drei große Zustände unseres Nervensystems, die darüber bestimmen, wie wir uns fühlen und auf die Welt reagieren:
🟢 1. Der ventral-vagale Zustand: Sicherheit und soziale Verbindung
Der „neue“ Teil des Vagusnervs (ventraler Vagus) sorgt dafür, dass wir uns sicher fühlen.
Er ist evolutionär gesehen der jüngste und steuert soziale Interaktion, Nähe und emotionale Regulation.
Wenn dieser Zweig aktiv ist, fühlen wir uns ruhig, verbunden und präsent.
👉 Wissenschaftlicher Hintergrund: Der ventrale Vagus ist mit unserer Mimik, unserer Stimme und unserem Herzschlag verbunden. Deshalb beruhigt uns ein sanftes Lächeln oder eine freundliche Stimme – unser Nervensystem erkennt sie als Zeichen von Sicherheit.
🟠 2. Der sympathische Zustand: Kampf oder Flucht
Wenn unser Gehirn eine Bedrohung wahrnimmt, aktiviert es das sympathische Nervensystem.
Das führt zu einer Erhöhung von Adrenalin und Cortisol, was unseren Körper in einen Alarmzustand versetzt.
Wir werden aufmerksamer, unser Herz schlägt schneller, der Blutdruck steigt.
👉 Wissenschaftlicher Hintergrund: Der Sympathikus ist dafür da, uns vor Gefahren zu schützen. Aber bei traumatischen Erlebnissen kann er „hängen bleiben“, sodass wir ständig in einem Zustand von Anspannung oder Angst leben – selbst wenn keine Gefahr mehr besteht.
🔴 3. Der dorsale Vagus-Zustand: Erstarrung und Abschaltung
Wenn eine Bedrohung zu groß oder unausweichlich ist, schaltet unser Körper in den Schutzmodus der „Erstarrung“.
Das ist eine alte, evolutionäre Reaktion, die wir mit Reptilien teilen.
Menschen in diesem Zustand fühlen sich leer, abgeschnitten oder wie betäubt.
👉 Wissenschaftlicher Hintergrund: In diesem Zustand wird die Herzfrequenz gesenkt, der Blutdruck sinkt, und das Gehirn schaltet in eine Art „Sparmodus“, um Energie zu sparen. Das ist eine Überlebensstrategie, die uns davor schützt, überwältigende Emotionen zu spüren.
Warum die Polyvagal-Theorie für Trauma so revolutionär ist
Früher dachte man, Trauma sei eine mentale Störung – etwas, das „im Kopf“ passiert.
Die Polyvagal-Theorie zeigt uns jedoch, dass Trauma eine Schutzreaktion des Nervensystems ist. Das erklärt, warum viele Betroffene sich „wie ferngesteuert“ fühlen: Ihr Körper entscheidet unbewusst, ob sie kämpfen, fliehen oder erstarren – unabhängig vom rationalen Verstand.
Das Nervensystem speichert Erfahrungen, nicht nur Erinnerungen
Manche Menschen mit Trauma fühlen sich ständig in Alarmbereitschaft, weil ihr Nervensystem gelernt hat, dass die Welt unsicher ist.
Andere schalten sich ab und ziehen sich zurück, weil ihr Körper gelernt hat: Wenn ich mich unsichtbar mache, kann mir nichts passieren.
Das bedeutet: Es geht nicht darum, sich „zusammenzureißen“ – sondern dem Nervensystem zu helfen, wieder in den Zustand von Sicherheit zu finden.
Wie wir unser Nervensystem regulieren können
Die Polyvagal-Theorie liefert nicht nur eine Erklärung für Trauma – sie zeigt uns auch, wie wir unser Nervensystem bewusst beeinflussen können.
✅ Atemübungen: Längeres Ausatmen beruhigt den ventralen Vagusnerv.
✅ Soziale Nähe: Freundliche Stimmen, Blickkontakt und sanfte Berührungen signalisieren Sicherheit.
✅ Rhythmische Bewegungen: Schaukeln, Gehen oder sanftes Wippen helfen, das Nervensystem zu regulieren.
✅ Summen oder Singen: Diese Vibrationen stimulieren den Vagusnerv direkt.
✅ Sichere Beziehungen: Menschen, die uns zuhören und uns das Gefühl geben, gesehen zu werden, aktivieren unseren ventralen Vagus.
Fazit: Die Polyvagal-Theorie als Schlüssel zur Heilung
Dr. Stephen Porges hat mit der Polyvagal-Theorie unser Verständnis von Trauma grundlegend verändert. Sie zeigt uns, dass Trauma kein mentales Problem ist, sondern eine körperliche Schutzreaktion.
💡 Die wichtigste Erkenntnis: Unser Nervensystem ist formbar – und mit der richtigen Unterstützung kann es lernen, wieder in Sicherheit zu kommen.
🔹 Trauma bedeutet nicht, dass wir „kaputt“ sind. Unser Körper hat einfach nur gelernt, sich zu schützen.
🔹 Heilung bedeutet, dass wir ihm zeigen, dass die Gefahr vorbei ist – durch sichere Verbindungen, Berührung, Atmung und liebevolle Selbstfürsorge.
🔹 Der Weg zur Heilung beginnt damit, unseren Körper als unseren Verbündeten zu sehen – und ihm zu helfen, sich wieder zu entspannen, zu vertrauen und sich zu verbinden.